Galerie BRD mit der Ausstellung »Das Gespenst in der Maschine« zu Gast bei Dorothea Schlüter, vom 8. Oktober bis zum 2. November (eine Vernissage findet nicht statt).
Die Ausstellung ist Teil des internationale Kunstprojekts »Krankheit als Metapher. Das Irre im Garten der Arten«, kuratiert von Britta Peters. www.kamhh.de
Das Selbst ist keine historische Tatsache
The thesis was that there was something really good down in there and if you took these layers off what you were going to wind up with was a kernel, a something that was innately self-expressive, that was the true self that was going to be a wonderful thing. In actuality, we found people who had gone to the last layer and took off the last layer and found what was left was nothing.
Der Kern, auf den sich der ehemalige Autoverkäufer und Psychoguru Werner Erhard hier bezieht – das innere Selbst, das es zu finden gilt – beschreibt als sprachliche Konstruktion im 20. Jahrhundert eine bemerkenswerte Entwicklungslinie. Folgt man der Argumentation von Adam Curtis’ Film The Century Of The Self, so lässt sich diese Linie, die das Verhältnis des Menschen zu seinem Selbst darstellt, in zwei Phasen aufteilen.
Freuds dreigeteilte Definition der Psyche, bestehend aus dem Es, Ich und Über-Ich, bei der dem Unbewussten (Es) ein besonderer Stellenwert eingeräumt wurde, bildet hier den Anfang. Freuds Konzeption des Unbewussten beinhaltete sowohl tierisch-instinktive Triebe als auch verdrängte Bruchstücke vergangener Erlebnisse. Seine Vorstellung dieser Innenwelt war also bevölkert von unkontrollierten und vor allem unzivilisierten Elementen, die eine starke Auswirkung auf das Handeln des Einzelnen hatten. Um diesen potenziell gefährlichen Einfluss auf die Gesellschaft zu minimieren, mussten die Inhalte des Unbewussten in einer geordneten Form entdeckt, geborgen und unschädlich gemacht werden.
Diese komplizierte Operation konnte nach Freuds Meinung nur unter Aufsicht eines Psychotherapeuten durchgeführt werden, welcher dabei die Rolle eines Zeremonienmeisters oder Priesters einnahm, der zum Wohle des Einzelnen wie auch zum Wohle der Gesellschaft Manipulationen am Unbewussten des Patienten vornahm.
Ab den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend auch die Werbeindustrie auf diese Struktur aufmerksam, denn die Einflussmöglichkeit des Therapeuten barg vor allem auch ein nie geahntes Potenzial: den Durchbruch zu neuen Märkten. Das Wissen um das Vorhandensein jenes Unbewussten, eines verborgenen Meeres an Bedürfnissen und Wünschen in den Köpfen der Konsumenten, ermöglichte es der Werbebranche mithilfe der Psychoanalyse, ebendiese Bedürfnisse zutage zu fördern und anschließend durch Waren zu befriedigen.
So eröffneten sich wahrlich revolutionär neue Wege zur Absatzsteigerung.
Adam Curtis’ Erzählung zufolge blieb den Konsumenten durch die Ansprache an das Unbewusste gar keine andere Wahl, als zur Ware zu greifen. Dieses Verhalten der Konsumierenden zeigte die fehlende Kontrolle des Einzelnen über sein Innerstes und begründete zugleich den Bedarf an professionellem Personal, welches diese Inhalte kontrollieren und nutzbar machen konnte: in diesem Fall verkörpert durch Angehörige der Werbeindustrie.
Drei Jahrzehnte später, in denen diese Übertragung der Psychoanalyse in die Wirtschaft erstaunliche Erfolge verzeichnete, regte sich Widerstand aus den Reihen der Konsumenten. Anhänger einer neuen amerikanischen Linken schien der Zugriff der Wirtschaft in Bereiche der privaten Psyche als Grenzüberschreitung. Ausgerechnet das Innerste und Unzugänglichste der Psyche dem Einfluss von profanen wirtschaftlichen Interessen ausgesetzt zu sehen, schien für sie absolut inakzeptabel. Mit dieser Abneigung ging eine neue Vorstellung von der Beschaffenheit der Psyche einher – das Verhältnis des Menschen zu seinem Innenleben betrat eine neue Ebene: Das Unbewusste hatte in ihrer Vorstellung durchaus die Ausdehnung und die Relevanz, die Freud ihm zuschrieb, allerdings wurden seine Inhalte nun ausschließlich positiv aufgefasst. Diese Inhalte mochten zwar ebenfalls wild und unzivilisiert sein, ihre Entdeckung aber hatte ausschließlich wünschenswerte Auswirkungen. Nicht die Unbewussten, animalischen Triebe der Massen waren nun das Problem, sondern die Gesellschaft, die diese Triebe unterdrückte, verbot und unter Strafe stellte. Es handelte sich hierbei durchaus um Freuds klassische Theorie – nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Der professionelle Therapeut war nun im Prozess der Erkenntnis nicht nur überflüssig geworden – aufgrund seines Standpunkts außerhalb der geheimen Erkenntnisse des Einzelnen und seiner Selbstwahrnehmung wurde er sogar als gefährlicher Manipulator wahrgenommen und abgelehnt. Das alleinige vertrauenswürdige Personal bei dieser heiligen Veräußerlichung wurde der Einzelne, die erste Person Singular selbst.
Während in Freuds ursprünglicher Vorstellung das Unbewusste prinzipiell veränderlich war, musste dieser neue, grundlegend positive Kern in seinen Eigenschaften als unveränderlich gelten, sonst konnte er seinem Anspruch auf Wahrheit nicht gerecht werden. Und so wurde alles, was zutage trat, ein fest definiertes Attribut. Jede entdeckte Eigenschaft fällte ein ewiges Urteil über seinen Besitzer. Jeder psychische Zustand wurde zur metaphysischen Tatsache. Freuds Unbewusstes wurde nun das Selbst. Damit beendet Adam Curtis seine deskriptive Geschichte der Psychoanalyse.
Und hier befinden wir uns heute. Eine Legion von Vorstellungen über das Selbst kulminiert in einer Alltagspsychologie, welcher die oben beschriebene Vorstellung der Psyche zugrunde liegt. Nennenswert modifiziert wurde diese Grundlage nicht. Man könnte also meinen, es handele sich hierbei um eine effiziente Konstruktion, um ein Konzept, das aus gutem Grund so große Verbreitung gefunden hat. Die inhärenten Probleme dieser Konstruktion werden meist übersehen oder geleugnet, indem sie einer anderen Sphäre zugerechnet werden. Erst bei genauerem Betrachten wird die Vielfalt der Probleme sichtbar, die diese Vorstellung des Selbst mit sich bringt.
Dazu zählt etwa das schwerwiegende Dilemma, dem sich der Einzelne in Konfrontation mit dem postmodernen Leistungsimperativ gegenübersieht. Die singuläre Beschaffenheit des Selbst, für dessen Gesundheit jeder für sich zu sorgen hat, wird dabei eher als Problemursprung identifiziert als etwa die Struktur der Arbeit oder die Erwartungen an persönliche Beziehungen. Nicht die Beschaffenheit der sozialen Institution der Arbeit wird als fragwürdig identifiziert, sondern die scheinbar unpassenden oder unterentwickelten Attribute des Einzelnen, beispielsweise Leistungsorientiertheit, Freiheitsliebe oder soziale Inkompetenz.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Burn-out-Syndrom: eigentlich ein offensichtliches Zeichen für die Dysfunktionalität unserer Auffassung von Arbeit. Diese erzeugt bei den Betroffenen einen enormen Leidensdruck. Zwar wurden sie vom Schicksal mit dem Attribut der Leistungsorientiertheit versehen, nicht aber mit der dafür notwendigen Leistungsfähigkeit. Die postmoderne Identifikation mit der Arbeit macht ein Scheitern im Beruf schnell zu einem insgesamt gescheiterten Lebensentwurf: das vorhandene Konglomerat an persönlichen Attributen scheint leider ein Unpassendes zu sein. Wie man ist und wie man nicht anders kann wird geregelt durch den oben beschriebenen festen Schatz an persönlichen Merkmalen.
Doch es bleibt nicht bei einzelnen Opfern in der Arbeitswelt. Das Selbst erzeugt – als eine Ansammlung von geerbten bzw. durch das Schicksal zugewiesenen, also also durchweg privaten Attributen – eine Situation, die eine Gesellschaft der Solidarität nahezu unmöglich macht. Definiert man Solidarität als das sich-Wiederfinden des Einzelnen in seinem Gegenüber, ihn zu erkennen als gleichberechtigten Gleichen mit denselben begrenzten Problemen – wie kann dann Solidarität entstehen, wenn das oberste Ziel die Entdeckung des einzigartigen eigenen Inneren ist? Eines Inneren, das die unvergleichliche persönliche Wahrheit trägt. Auf die Suche nach dieser inneren Wahrheit muss sich jeder alleine begeben. Dabei wird das Soziale schlimmstenfalls als Hürde wahrgenommen, bestenfalls als Krücke – immer als Mittel, nie als Zweck.
Die Auffassung, Wünsche und Bedürfnisse als zu interpretierende Äußerungen eines mehr oder weniger eingesperrten Selbst zu betrachten, führt oft zu waghalsigen Manövern: Den Äußerungen des Selbst ist absolut Folge zu leisten, Widerstand ist zwecklos und wird mit Krankheit bestraft. Diese Struktur ist alt. Man findet sie bereits in der katholischen Umgangsweise mit Sünde, Beichte und Buße. Krank wird die Person, die nicht in Gänze bei sich selbst ist. Die Lösung ist mechanischer Natur: Ursache und Wirkung. Der kausale Zusammenhang zwischen zu-sich-selbst-Finden und sich-besser-Fühlen eröffnet eine Vielzahl an Beschäftigungsfeldern für die richtige, individualisierte Heilung. Ob Kochgruppe oder Poweryoga, Männlichkeitsrituale bei der Oldtimerreparatur oder Aussteigerromantik, immer ist die Autorität der ersten Person, des zu-sich-Findens und auf-sein-Bauchgefühl-Hörens die bestimmende Kraft. Das Selbst, das Individuum, die Gesundheit, die Kreativität – der urbane Mythos einer natürlichen Ordnung der Dinge.
Diese natürliche Ordnung erstreckt sich bis in die Wahrnehmung des politischen Systems. Interessanterweise ist dies besonders ein Phänomen des gemäßigt linksliberalen und urbanen Milieus. Die sanfte Kapitalismuskritik findet ausschließlich mit den vom Kapitalismus eingeführten und bereitgestellten Mitteln statt. Dabei werden zwei Hypothesen über die Welt nicht angetastet und als gegeben betrachtet: Einerseits, dass Veränderung durch Veränderung des Kaufverhaltens möglich ist, und andererseits, dass sich das Selbst der kaufenden Person in ihrem Kaufverhalten ausdrücken kann. Hier ist der oben beschriebene Einfluss der Psychoanalyse auf die Konsumkultur noch deutlich spürbar. Nur hat der erwähnte Wechsel der Vorzeichen dazu geführt, dass sich der Konsument nicht mehr als Manipulierter, sondern als Manipulator wahrnimmt. Er ist nicht mehr der passive Spielball in diesem Systems, sondern der aktive Spieler.
Die Frage, ob diese Konvention – die Behauptung, dass es so etwas gibt wie das unverfälschte Selbst – vielleicht grausam und problematisch ist, wird gar nicht erst gestellt. Identität, so suggeriert die jüngere Geschichte, ist eine historische Tatsache. Und Tatsachen sind wertvoll in einer Welt, die überkomplex scheint. Also gilt es festzuhalten an bekannten Konstruktionen, auch wenn die Begleitschäden allgegenwärtig sind. Nicht immer ist dieses begrifflich nebulöse Konglomerat aus Selbst, Geist und Seele negativ konnotiert, nicht immer ineffizient und grausam. Das Potenzial dazu hat es aber allemal.
Wenn man sich einer anderen Erzählung zuwenden würde, einer, die das Selbst nicht akzeptiert als metaphysische Tatsache, geriete die Narration der Attribute ins Wanken.
Sexuelle Orientierung könnte beispielsweise als temporäre Verhaltensweise verstanden werden – keine Zuschreibung, sondern eine Beschreibung werden. Hetero- oder homosexuell zu sein wäre in dieser Erzählung keine relevante Information mehr, da es den vermeintlichen Träger sexueller Orientierung, also das Selbst, nicht mehr als Tatsache gäbe. Eine Geschichte der Verhaltensweisen wäre effizienter und wandelbarer als das Fischen im trüben Gewässer der eigenen Psyche.
Solche Verschiebungen der Konventionen sind ein schleichender Prozess. Viral trägt sich ein anderes Sprechen weiter, es passiert die ganze Zeit, in alle Richtungen. Wörter verschwinden aus dem Sprachgebrauch und bekannte Verhaltensweisen werden getauscht gegen neue, der Situation angepassten.
Gespräche über das Grundeinkommen zum Beispiel zeigen solche Veränderungstendenzen. Das Auftreten dieses Begriffs und der dazugehörigen Debatte deuten nicht nur auf ein verändertes Verhältnis zur Arbeit hin, sie führen diese Veränderung auch fort. Der Begriff muss zuerst geboren werden, um zum Träger einer ganzen Reihe von Ideen zu werden; die Sprache steht in enger Verbindung zur Handlung.
Die rein zufällige Beschaffenheit der Welt lässt uns viel Handlungsspielraum, die Weltbeschreibung effizient nach unseren Notwendigkeiten zu ändern. Dabei geht es nicht darum, wie ein Taschenspieler aufzutreten und zu erklären, dass alle Probleme, die der Arbeit, die der Psyche, die des Leidensdrucks, einfach verschwinden, wenn wir nur lange genug sagen, dass es sie eigentlich nicht gibt. Wenn man die sprachliche Struktur hinter dem, was man als Probleme bezeichnet, erkennen könnte, dann verlören sie ihr Gewicht als unumstößliche Tatsachen. Sie sind eine Möglichkeit von vielen und es liegt an der Gemeinschaft der Sprechenden, diese Möglichkeiten gegen andere zu tauschen. Dieses Verständnis von der Welt impliziert, dass es keine natürliche Ordnung der Dinge gibt, keinen Ursprung, der richtig oder falsch definiert, keinen Masterplan. Diese Begriffe sind Prothesen, die temporär für einzelne Erzählungen und deren jeweilige Logik gelten können; sie verweisen jedoch auf keine Wahrheit hinter den Dingen.
Diese Erkenntnis ist ein zweischneidiges Schwert.
Was können wir entgegensetzen, ist die Frage – was anbieten? Die Zukunft liegt wahrscheinlich nicht in der Vergangenheit. Kein Gott, dem wir uns nähern können, keine Natur, mit der wir im Einklang stehen müssen, kein Selbst, das es zu finden gäbe. Was wir haben, sind soziale Institutionen, die schon immer durch unser Sprechen geformt wurden. Wenn wir die Strukturen verstehen, die Veränderlichkeit dieser Institutionen erkannt haben, dann wird auch klar, dass uns die geschichtliche Kontingenz der Sprache zusammenhält und eint. Das sich-in-derselben-Geschichte-Befinden, in derselben Kontinuität mit denselben Institutionen und Codes, könnte Grund genug sein, solidarisch zu handeln und gemeinsam die Sprache und ihre Produkte gerechter und weniger grausam zu gestalten.
Institutionen wie Arbeit und Sexualität, Liebe und Individualität sind Konstruktionen und keine Tatsachen, wir könnten uns von ihnen trennen, wenn wir das wollten. Neustrukturierung der Sprache statt Festhalten an etwas, das Leiden schafft. Die Werkzeuge dazu hätten wir schon lange.